Die Ameise als Lehrer

13 May 2022

[ Schreibtraining  ]

Als Kind hatte ich die Gewohnheit, Ameisen zu beobachten. Diese Beobachtungen bereiteten mir Freude. Woher sie kamen, von wo sie auftauchten, wohin sie gingen wusste ich nicht. Es war für mich ein Wunder. Und ich habe auch bemerkt, dass die Ameisen immer ein Stück von irgendeiner Süßspeise tragen. Und es war so schön, eine bewegliche Linie von Ameisen zu sehen. Ich habe mir vorgestellt, dass wohl jede ein Signal, dass der Weg sicher ist, der nächsten überträgt. Als ich 10 war, hatte ich noch größere Lust, herauszufinden, was sie machen, wenn jemand ein Hindernis auf ihren Weg setzt. Ich habe einmal ein Papier auf den Weg gestellt – und die erste Ameise hat gestoppt. Und nach 2 oder 3 Sekunden versuchte sie entlang des Papiers zu laufen. Sie suchte hier und dort einen sicheren Weg, bis es ihr gelang. Zu meiner Überraschung hat die gleich darauf folgende Ameise schon gestoppt – sie dürfte den Signalabbruch schon erkannt und sofort diese Störung den folgenden anderen auf dem Weg mitgeteilt haben. Ich habe bemerkt, wie schnell sie darauf reagiert haben. Sie machten keine weiteren Fortschritte, als ob die Welt für sie eingefroren wäre. In der Zwischenzeit hat die erste Ameise, deren Weg versperrt war, einen neuen Weg gefunden. Sie kehrte zurück und kam zu der ersten Ameise in der langen Schlange, um diese Information über den neuen Weg weiterzugeben. Die beiden tauschten ein neues Signal aus und damit wurde die Reise fortgesetzt. Manchmal brachte ich in der Schlange laufende Ameisen ganz willkürlich um. Ich wollte nur wissen, ob z.B. die siebte Ameise von der zehnten Ameise verfolgt werden könnte, wenn ich dazwischen zwei Ameisen umbringe? Ehrlich gesagt, das hat mir keinen Spaß gemacht, es war nur eine Befriedigung meiner Neugier. In diesem Experiment wurde ich manchmal von der Natur sofort bestraft, immer wenn mir die roten Ameisen in meine Finger gebissen haben. Sogleich fühlte ich einen stechenden und brennenden Schmerz. Mit den schwarzen Ameisen bin ich aber ungestraft geblieben, weil sie harmlos sind. In meiner Kindheit war es ein Kampf zwischen mir und ihnen. Ich wollte sehen, wann sie hoffnungslos aufgeben würden und habe sie immer auf die Probe gestellt.

Heute kann ich zugeben, ich bin den Ameisen sehr dankbar. Diese Lebewesen haben mir geholfen, zu lernen, nicht nur ein Mensch mit Neugier zu sein, sondern haben mir auch beigebracht, meine Einstellung zu entwickeln, nicht aufzugeben, wenn etwas nicht wie geplant passiert. Ich bin davon überzeugt, ein Hindernis ist eine Gelegenheit,einen besseren Weg zu finden. Von den Eltern wusste ich, dass die Ameisen das Essen immer für die schlechten Tage sammeln. Diese Lebewesen lehren uns sowohl Organisation-Fähigkeiten, als auch Teamwork und Einigkeit. Es gibt keine persönliche Interessen, sondern Gruppenarbeit, die ihnen bei einer Durststrecke, wenn das Essen nicht verfügbar ist, hilft. In der heutigen Welt bräuchten wir diesen Zusammenhalt, wie ihn uns die Ameisen zeigen, um jede Krise, sei es Corona, oder Terrorismus, oder Ungerechtigkeit, oder Unmenschlichkeit, zu bekämpfen und zu überwinden. Oft überlege ich mir, die bösen Mächte dürften sich dafür interessieren,wie wir Probleme bewältigen und ob wir auch Beharrlichkeit ausüben, weswegen wir im Laufe des Lebens auf einmal in Schwierigkeiten geraten. Wer weiß es genau?